Precht Video Text zum Thema ewige Kriege

Richard David Precht zum Thema: Ewige Kriege – 

Warum die Völker keinen Frieden finden

[ https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/precht-170.html ]

Quelle: ZDF-Mediathek-Video|22.05.2017

Krieg in Syrien, Waffengewalt in der Ukraine, Säbelrasseln zwischen den USA und Nordkorea – die bewaffneten Konflikte nehmen kein Ende. Aber warum eigentlich, wenn sich doch schon seit langer Zeit nirgendwo in der Welt ein Krieg mehr siegreich führen und beenden lässt. Warum gibt es fast 30 Jahren nach dem Mauerfall immer noch Kriege, Blöcke und Frontlinien? Darüber rede ich mit General a.D. Harald Kujat, dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr und früheren Vorsitzenden des NATO-Sicherheitsrates.

Precht: Herr Kujat, warum sind Kriege heute noch immer unvermeidbar?

Kujat: Sie sind nicht unvermeidbar. Sie können vermieden werden, wenn man die richtige Aussen- und Sicherheitspolitik durchsetzt bei allen Staaten. Aber sie finden tatsächlich deshalb immer noch statt, weil es viele Ursachen für diese Kriege gibt und an diese Ursachen müssen wir herangehen.

Precht: Da hat man im Augenblick das Gefühl, dass sehr schlecht an die Ursachen herangegangen wird.

Kujat: Das ist richtig.

Precht: Die Anzahl der Kriegsschauplätze ist nicht gesunken. Wir haben grosse Kriegsschauplätze in Syrien, wir haben nach wie vor ein Kriegsschauplatz im Osten der Ukraine, wir haben in Afrika ganz viele Kriegsschauplätze. Es gibt viele Weltregionen, sie kommen nicht zur Ruhe, es gibt Säbelrasseln zwischen USA und Nordkorea. Man hat das Gefühl, die Verhältnisse 25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges sind nicht ruhiger, nicht friedlicher geworden, sondern das Ganze eskaliert im Augenblick sogar stärker als vorher. Woran liegt das?

Kujat: Nun das eine ist, wir haben während der Zeit des Kalten Krieges ja relativ starre Blöcke gehabt. Die beiden Blöcke standen sich hoch bewaffnet gegenüber, aber das war auch eine Form der Stabilität. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer-Paktes, nach der Auflösung der Sowjetunion, sind sozusagen die tektonischen Platten in Bewegung geraten. Und überall da, wo sie übereinander gingen oder wo sie zusammenstiessen – Sie können jetzt den Balkan nehmen, Sie können Transnistrien nehmen, Sie können viele Bereiche nehmen – überall da entstanden neue Konflikte. Im Grunde haben sich die Spannungen gelöst, die sich aufgebaut hatten über Jahre. Hinzu kommt ein zweiter Aspekt und das ist gerade der, der uns heute sehr stark beschäftigt. Das – was ich eben sagte, das war sozusagen in den ersten 20 Jahren der Fall. Jetzt ist es so, dass wir diesen Krisenbogen haben und wir eine Auseinandersetzung – ich würde fast sagen – zwischen Kulturen haben. Das ist aber nicht der Fall, es wirkt nur so. Die Ursachen liegen sehr, sehr tief. Für das, was im Augenblick geschieht: die Flüchtlingsbewegung aus Afrika südlich der Sahara, die Entwicklung in Nordafrika, das ist zum Teil vom Westen selbst ausgelöst worden. In der Absicht ein Regime-Change herbeizuführen – also diktatorische Regime zu ersetzen durch demokratische Regime in Irak beispielsweise, in Libyen beispielsweise – ist natürlich diese ganze Gegend in Aufruhe geraten. Hinzu kommt ein weiteres, wenn wir darüber sprechen: Wie sollen wir die Ursachen beseitigen, wie sollen wir die Ursachen für Konflikte beseitigen? Da muss man wirklich an die Ursachen und nicht an die Anlässe herangehen. Der Syrien-Krieg ist der Anlass für die Fluchtbewegungen, aber die Ursachen liegen wesentlich tiefer. Ich sehe im Wesentlichen drei.

Precht: Also drei Ursachen für den Syrien-Krieg.

Kujat: Für die Konflikte in dieser Region überhaupt und für die massenhafte Migrationsbewegung. Das eine ist eine Dürre, eine Trockenheit, die so stark ist, wie sie seit 900 Jahren nicht mehr war, und das seit 1998; und natürlich werden die Folgen über die Jahre, je länger diese Dürre anhält, immer stärker. Wir sehen das in Südsudan, in der Gegend südlich der Sahara und wir haben es auch in Syrien gesehen. Ein Höhepunkt hat diese Trockenheit in Syrien beispielsweise 2010 erreicht und Millionen von Bauern sind in die Slums von Damaskus aus den Slums von Aleppo gegangen, Vieh ist verdorrt, Wasser ist ein grosses Problem gewesen und genau ein Jahr später ist dieser Aufstand entstanden, der heute zu diesem Krieg geführt hat. Und davon haben den Vorteil gezogen – haben die Situation ausgenutzt – terroristische Kräfte: der IS, Al-Qaida, – die immer dorthin gehen, wo sie einen Nährboden finden für ihre Aktivitäten. Die zweite Ursache ist die Unterentwicklung dieser Länder, Analphabetentum …

Precht: Aber in Syrien jetzt nicht so ausgeprägt, wie in vielen anderen Ländern.

Kujat: Immerhin! Die UNO hat 2004 eine Untersuchung in Syrien gemacht und festgestellt, dass über 40% der Erwachsenen Analphabeten sind. Hinzu kommt der Kinderreichtum, vor allen Dingen verursacht durch die Kinderehen, also wenn Kinder mit 13 Jahren schon verheiratet werden, und das ganze führt natürlich dazu, dass sich eine Entwicklung dieses Landes in technologischer Hinsicht, in wirtschaftlicher Hinsicht gar nicht erreichen lässt. Und der dritte Grund, der geht zurück auf den Oktober 680, und zwar auf die Schlacht in Irak – in der von Kerbela, in der der Enkel – Hussein – von Mohammed gefallen ist, der den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten ausgelöst hat. Wenn Sie diese drei Aspekte zusammennehmen, dann haben Sie alle Zutaten, die Sie brauchen, um einen über Jahre anhaltenden, ständig sich erneuenden Konflikt zu produzieren.

Precht: Sie würden also sagen, dass es sich um eine Art endogenen Konflikt handelt: also ein Konflikt, der aus zum Teil sehr alten, weit zurückreichenden Konflikten in der Region – verstärkt durch eine Art Klimakatastrophe – ergeben hat und nicht um ein Konflikt, der ausgebrochen ist, weil andere Mächte – wie der Iran, wie Saudi-Arabien, wie die USA und dann irgendwann auch Russland – hier ein Stellvertreterkrieg führen.

Kujat: Nein, es ist ein endogener Konflikt zunächst mal, der aber dann im Grunde am Leben erhalten wird, perpetuiert wird sozusagen durch das Eingreifen fremder Mächte. Und Sie können das auch sozusagen von der anderen Seite her betrachten: Wenn man die Waffenlieferungen an die Rebellen, an terroristische Gruppen und die Unterstützung, die an den IS geleistet wird, von unseren Verbündeten ja teilweise; wenn man das von heute auf morgen beenden würde, dann würde man den Sumpf austrocknen.

Precht: Das tut man aber nicht. Das heisst, wer bewaffnet heute noch den IS?

Kujat: Die Dinge haben sich heute etwas verändert. Lange Zeit war es eben so, dass sowohl die Terroristen – die potentiellen Terroristen muss ich sagen – als auch die Waffenlieferungen über die Türkei in dieses Gebiet eingesickert sind. Das hat sich im letzten Jahr etwas verändert und offensichtlich nimmt die Türkei jetzt eine etwas andere Position ein. Aber…

Precht: Die Türkei hat den IS finanziell unterstützt? Mit Waffen unterstützt?

Kujat: Finanziell ist er im Wesentlichen unterstützt worden durch Katar, durch Saudi-Arabien

Precht: Und warum wird er unterstützt? Welches Interesse verfolgen die Türkei, Katar und Saudi-Arabien mit der Unterstützung des IS?

Kujat: Es geht um Einfluss in der Region. Sehen Sie, wenn Sie bei einem solchen Konflikt auf eine Konfliktpartei setzen, dann tun Sie das in der Annahme, dass diese Konfliktpartei letzten Endes obsiegt und damit Ihren eigenen Einfluss in diese Region hineinträgt.

Precht: Und jemand, der das tut, wer den IS unterstützt, der ja weiss, dass er eine verbrecherische Organisation unterstützt, der macht das, weil er sich langfristig einen Vorteil davon verspricht?

Kujat: Weil er sich Einfluss davon verspricht in der Region.

Precht: Und weil diese Mächte, die das tun, keine Interesse daran haben, dass es wirklich Frieden gibt, sondern der Einfluss ist wichtiger als der Frieden.

Kujat: So ist das.

Precht: Warum fehlt quasi die Intelligenz, die über den Konflikt steht und die genau abwägt, was sind die Vorteile davon, was sind die Nachtteile davon? So etwas scheint es ja nicht zu geben. Also die Tatsache, dass die Russen eingegriffen haben, haben wir – im Anschluss an den Ukraine-Konflikt, als Teil der russischen Expansionspläne bzw. Einflusssphäre, von Anfang an sozusagen – vom Tisch gewischt: Mit denen machen wir keine gemeinsame Sache! Wenn Sie aber die Lage in Syrien beschreiben, dass wir also die Wahl gehabt haben zu diesem Zeitpunkt zwischen Assad und dem IS, dann hätte es doch sowas wie einen Plan der Intelligenz geben müssen, die immer gesagt hat: Also wir müssen uns auf irgendwas einigen, was das kleinste Übel für alle Betroffenen ist.

Kujat: Ja.

Precht: Ich meine, so ist ja mal überhaupt der Gedanke entstanden, wie Völker Kriege und Konflikte vermeiden können. Und wenn wir mal historisch zurückgehen, beginnt eigentlich der Anfang dieser Entwicklung mit Thomas Hobbes. Jener englische Grossphilosoph, der gesagt hat: «Wir beschneiden unsere Freiheit und setzen eine Zentralgewalt ein, die als Schiedsrichter fungiert, damit wir in Frieden miteinander leben können.» Das hat er zwar nur für England gemeint und nicht für den Rest der Welt, aber damit beginnt ein Gedanke, der dann schliesslich bei Hugo Grotius zum Völkerrecht führt. Also, wir brauchen eine neutrale Schiedsrichter-Instanz.

Kujat: Die sich auf die Charta (=Satzung/Grundsätze) der Vereinten Nationen gründet.

Precht: Wir haben gehofft, nach Ende des Kalten Krieges, dass die Vereinten Nationen in diese Rolle kommen können. Der Erste Golfkrieg, also je nach Zählart, aber jedenfalls jener Golfkrieg, in dem wir Hussein aus Kuwait vertrieben haben, in diesem Golfkrieg gab es ein UNO-Mandat, und die ganze Welt war stolz darauf und hat gesagt: Das ist kein Krieg, den Amerika führt und der nicht willkürlich geführt wird, sondern die Weltgemeinschaft hat das entschieden. Dieses Modell würde dann im Zweiten Golfkrieg torpediert, wo gegen den Beschluss der UNO ein Krieg im Irak geführt worden ist, mit all den verheerenden Folgen. Was ist da schief gelaufen? Ich frage Sie das vor allen Dingen deswegen, denn Sie waren damals in hoher, führender Verantwortung bereits. Also, Sie kennen die Vorgänge hinter den Kulissen. Warum ist die UNO in die Rolle des Weltschiedsrichters nicht wirklich hereingewachsen, warum hat das nicht funktioniert?

Kujat: Also zunächst mal, der Erste Golfkrieg, der Erste Irakkrieg, – da waren die Verhältnisse klar. Es ging um einen Angriff auf einen friedlichen Staat – durch den Irak, durch Hussein – und damit war die Charta der Vereinten Nationen verletzt und der Krieg wurde – sozusagen – dadurch legitimiert. Im Zweiten Irakkrieg ist der Versuch gemacht worden, diesen Krieg zu legitimieren. Dazu müsste ich vielleicht einen Einschub machen: Ich war einige Zeit Referatsleiter des Referates für nukleare und weltweite Abrüstung im Verteidigungsministerium und in dieser Funktion war ich nach dem Ersten Irakkrieg verantwortlich für die Verifikation von Massenvernichtungswaffen im Irak. Wir hatten also ein relativ starkes Kontingent der Bundeswehr im Irak stationiert, das nun den Auftrag hatte, herauszufinden: Hat Hussein über chemische Waffen, biologische Waffen verfügt, über …

Precht: … die berühmten ‹Weapons of Mass Destruction›.

Kujat: Ja genau, es ging auch um Raketen, die Scud-R-Raketen, die Israel angegriffen hatten. Das war die Aufgabe und wir haben ganze klare Feststellungen getroffen.

Precht: Sie sind selber in Irak gewesen?

Kujat: Ich bin nicht selber in Irak gewesen. Aber ich war derjenige, der dafür verantwortlich war, die Soldaten dahin zu schicken, und der den Auftrag erteilt hat, wie das im Einzelnen durchzuführen war, im Auftrag der Vereinten Nationen. Als ich dann diese Sitzung des UN-Sicherheitsrates sah, in der Colin Powell erklärt hat, warum man nun im Irak intervenieren müsse, übrigens ein Mann, den ich sehr schätze …

Precht: … Ja, nachher hat er ein richtig schlechtes Gewissen gehabt.

Kujat: Was in der Politik nicht so häufig vorkommt – ein Mann, den ich sehr schätze. Als ich dann hörte, was er dort sagte, da bin ich fast umgefallen, weil es allem widersprach, was wir an Feststellungen im Irak getroffen hatten bzw. angetroffen hatten. Aber es zeigt eben, hier würde eine Legitimation gesucht für diesen Angriff, die eigentlich nicht da war. Man könnte sagen, immerhin ging es noch darum, einen solchen Angriff zu legitimieren, das zeugt ja doch von einem Rest Anerkennung des Völkerrechts. Aber es war eben nicht zu legitimieren, weil die Beweise, die da vorgelegt wurden, nicht zugetroffen haben. Und dieser Krieg hat natürlich eine Welle ausgelöst.

Precht: Er hat etwas gebrochen, er hat eigentlich ein Menschheitsversprechen zerstört: nämlich das Menschheitsversprechen, dass ein dauerhafter Frieden in der Welt möglich ist, wenn die UNO als entsprechender Schiedsrichter fungiert und von allen anerkannt wird. Und das ist von den USA im Zweiten Golfkrieg gebrochen worden, wider besseres Wissen.

Kujat: Wider besseres Wissen, ganz klar. Nun muss man auch dazu sagen, welche Rolle können die Vereinten Nationen überhaupt spielen – und da ist natürlich die zentrale Frage: die Autorität des UN-Sicherheitsrates. Und hier wiederum sind es die fünf ständigen Mitglieder, die letzten Endes entscheiden, was auf dieser Welt richtig und was falsch ist.

Precht: Ja.

Kujat: Und vor einigen Tagen hat der neue amerikanische Präsident Trump gesagt: «Die UN, sie haben also nichts bewirkt, sie kosten nur Zeit und Geld, aber sie können nichts leisten.» Und da stellt sich die Frage: Kann man das ändern? Warum ist es so? Die UN ist in der derzeitigen Konstruktion eine Folge des Zweiten Weltkrieges. Das können Sie auch in der UN-Charta sehen. Die gesamte Konstruktion ist …

Precht:Genau wie die NATO.

Kujat: Genau wie die NATO, ja. Nur die NATO ist eben sozusagen begrenzt auf eine bestimmte Anzahl von Staaten, die sich durch die damalige Sowjetunion bedroht sehen, während die Vereinten Nationen ja nun sozusagen das Völkergewissen darstellen sollten und die Regelungen treffen sollten, die für einen dauerhaften Frieden sorgen. Deshalb kommt den Vereinten Nationen eine wesentlich höhere Bedeutung eigentlich zu.

Precht: Und der Sicherheitsrat wurde geschaffen, um das Schlimmste zu verhindern?

Kujat: Er wurde geschaffen, um das Schlimmste zu verhindern. Aber er wurde auch geschaffen, um den Staaten ein Platz zu geben, die – sagen wir mal – auf der Siegerseite waren, die damals den grössten Einfluss in der Welt hatten.

Precht: Weil ja wichtig war, dass sie sich unter einander halbwegs vertragen und mit Hilfe eines Vetorechts verhindert wird, dass es zu einem Dritten Weltkrieg kommt.

Kujat: Aber inzwischen ist die Welt ja weitergegangen.

Precht: Das heisst, Sie würden den Sicherheitsrat erweitern?

Kujat: Es gibt schon seit Jahren den Versuch einer Reorganisation des UN-Sicherheitsrates. Der UN-Sicherheitsrat ist ja erweitert worden, um Nicht-ständige-Mitglieder, aber sie haben kein Vetorecht. Und die Frage ist natürlich immer bei einer solchen Organisation: Bedeutet die Vergrösserung der Zahl, dass eher entschieden werden kann, einstimmig auch entschieden werden kann? Oder…

Precht: Ja genau, das ist völlig klar, es wird immer schwieriger sein, zu UNO-Beschlüssen zu kommen, je mehr Mitglieder im Sicherheitsrat sind.

Kujat: So ist es.

!!! Precht: Wäre es nicht nach Ende des Kalten Krieges eine sehr gute Idee gewesen, die NATO der UNO zu unterstellen – also ein Weltverteidigungsbündnis zu machen, in dem alle 193 UNO-Staaten alle drinnen sind, ausnahmslos ALLE? Und die UNO wäre jetzt der Weltschiedsrichter mit der militärischen Macht, überall dort, wo die Regeln verletzt werden, einzugreifen und zu verhindern, dass es zu Kriegen kommt. Wäre das nicht sozusagen jener Traum gewesen, den Immanuel Kant schon Ende des 18. Jahrhunderts hatte, als er in seiner Schrift vom ewigen Frieden von einem Völkerbund geträumt hat, der gleichzeitig die exekutive Macht hat, Regelverstösse auch zu sanktionieren?

Kujat: Also was Sie gerade geäussert haben, das ist ein Gedanke, den ich vor Jahren hatte. Ich bin bei den Vereinten Nationen gewesen. Ich habe mit den Vereinten Nationen die Möglichkeiten diskutiert, wie die NATO die Vereinten Nationen unterstützen kann – militärisch unterstützen kann –, wie sie sozusagen als verlängerter Arm der Vereinten Nationen wirken kann. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Afrikanische Union. Auch hier könnte die NATO Unterstützung leisten und damit diese Organisation schlagkräftiger machen. Es ist in der Tat dann auch eine Vereinbarung geschlossen worden, zwischen der NATO und den Vereinten Nationen, dass die NATO Unterstützung leisten kann. Letzten Endes hängt es aber immer von den handelnden Staaten ab. Die NATO handelt ja nach dem Konsensprinzip, also für jeden Einzelfall müssen alle Mitgliedstaaten der NATO einer Entscheidung zustimmen, sonst gibt es diese Entscheidung nicht.

Precht: Ja gut, die könnte man ja vielleicht ein bisschen verändern, wenn man immer mehr Länder in die NATO aufnehmen würde.

Kujat: Es stellt sich diese Frage sowieso.

Precht: Genau, da muss es andere Abstimmungsprozesse geben, dann braucht man keine absolute Mehrheit für irgendwas. Aber der Grundgedanke ist ja eigentlich, dass es den Frieden sichern würde in einem unglaublichen Ausmass.

Kujat: Richtig.

Precht: Also wir führen ja immer noch den Kalten Krieg fort. Wir haben immer noch die NATO, die NATO hat immer noch ein Feindbild: Russland – ein Land, das ein völlig anderes Land ist als die Sowjetunion von damals, es gibt sozusagen keine ideologische Differenz. In Russland gibt es keine richtige Demokratie, da gibt es eine Führer-Demokratie. Das ist wahrscheinlich die Staatsform, die am häufigsten in der Welt vorkommt. Die Philippinen sind das, Indonesien ist das. Wenn man mal so quer durch die Welt geht, sehr, sehr viele Entwicklungsländer haben die gleiche Struktur wie Russland. Und Russland hat ja zweimal vorgeschlagen, dass sie – also die Russen – in die NATO möchten, einmal unter Gorbatschow und auch unter Putin. Und dann haben wir argumentiert, wir können Russland nicht in die NATO aufnehmen, weil am Anfang des NATO-Vertrages steht ja drinnen, dass man eine funktionierende Demokratie haben muss und sich zu Grundsätzen liberaler Marktwirtschaft bekennt. Und das erfüllt Russland nicht. Wir haben allerdings andere Staaten in der NATO, die auch keine funktionierenden Demokratien sind. Die Türkei entfernt sich absolut davon, wird also ein sehr ähnlicher Staat im Augenblick wie Russland jetzt schon ist, da gibt es keinen grossen Unterschied mehr, bleibt aber NATO-Mitglied. Wir haben Ende der 60er Jahre oder Mitte der 60er Jahre Griechenland nicht aus der NATO ausgeschlossen, als es eine Militär-Diktatur war. Jetzt meine Frage an Sie: Was ist die NATO? Ist sie eine Wertegemeinschaft oder ist sie ein Zweckbündnis?

Kujat: Sie ist ein Zweckbündnis. Sie ist ein Zweckbündnis, das ganz eindeutig natürlich auf Werten beruht, aber das Entscheidende ist, es ist ein Verteidigungsbündnis, das der Sicherheit aller souveränen Staaten dient, die Mitglied in der NATO sind.

Precht: Würden Sie jedes Land in die NATO aufnehmen, quasi als pazifizierende Massnahme? Würden Sie Russland aufnehmen?

Kajut: Das ist ein interessanter Punkt. Als wir die Erweiterungsverhandlungen mit den osteuropäischen Staaten durchgeführt haben – ich selbst war ja Leiter in der ersten Runde der Verhandlungen auf der militärischen Seite mit Ungarn, mit Polen beispielsweise und mit der Tschechischen Republik, und es gibt keinen Kriterienkatalog, keine 10 Punkte, die erfüllt werden müssen, um Mitglied zu werden. Aber es gibt natürlich Kriterien, die eingehalten werden müssen, und sie werden auch sehr sorgfältig in diesen Verhandlungen abgearbeitet. Und diese Beitrittsverhandlungen, ja allein die Aussicht auf einen Beitritt in die UNO, haben zu einer gewaltigen Veränderung in diesen Staaten geführt.

Precht: Aber nachher, wenn man einmal drinnen war? Siehe Polen, siehe Ungarn.

Kujat: Kann man nicht mehr raus.

Precht: Ja. Ist das egal?

Kujat: Es gibt keine Türen nach draussen.

Precht: Also, wenn sich Ungarn jetzt in eine lupenreine Diktatur verwandeln würde, und es ist auf einen guten Weg dahin, würde es völlig normal Mitglied der NATO bleiben?

Kujat: Es sei denn Ungarn selbst entscheidet, auszutreten.

Precht: Und bei der Türkei gilt das auch? Also was immer Erdogan macht, er bleibt Mitglied der NATO?

Kujat: Ja, das ist völlig richtig. Ich will nochmal auf den Fall Russland zurückkommen. Der ist etwas anderes gelagert. Natürlich geht es dabei auch um die von Ihnen beschriebenen Werte, aber das ist nicht der entscheidende Punkt gewesen. Ich habe den Eindruck gehabt, dass Russland selbst nicht bereit war, in die NATO einzutreten. Das hat Gründe, die gar nicht mal so im NATO-Vertrag liegen, sondern wenn man Mitglied der NATO wird, muss man eingegliedert werden in die militärische Kommando-Organisation, was enorme Schwierigkeiten für die NATO und für Russland bedeutet hätte.

Precht: Ja, Russland wäre nicht in eine NATO, wie sie bisher funktionierte, unter amerikanische Oberbefehlshaber eingetreten, sondern man hätte dann, wenn Russland eingetreten wäre, die NATO dann tatsächlich quasi der UNO unterstellen müssen und hätte die NATO auch strukturell völlig anders aufgebaut.

Kujat: Oder Russland hätte auch eine Form des Beitritts wählen können, wie Frankreich beispielsweise von 1967 bis vor kurzem hatte, also politisch Mitglied in der NATO sein, aber nicht militärisch. Das wäre durchaus möglich.

Precht: Hätten Sie das befürwortet?

Kujat: Ich habe meine Zweifel. Ich habe selbst ja auch mitgearbeitet an dem Grundlagenvertrag von 1997, der eine strategische Partnerschaft zwischen der NATO und Russland begründet hat, in der Form dann auch des NATO-Russland-Rates und anderer Arbeitsorganisationen, also eine ganz enge Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland. Und wenn Sie die Sitzungen des NATO-Russland-Rates sehen, die auf verschiedenen Ebenen stattfinden, – ich selbst war 3 Jahre Vorsitzender des NATO-Russland-Rates der Generalstabschefs –, das ist ein Instrument, mit dem Sie unglaublich viel bewirken können, beispielsweise jetzt auch gerade im Hinblick auf den Ukraine-Konflikt.

Precht: Aber warum ist dieser Konflikt überhaupt eskaliert? Also warum haben diese Gremien in Zusammenarbeit zwischen NATO und Russland nicht frühzeitig verhindert, dass die Lage in der Ukraine dermassen eskaliert ist?

Kujat: Weil man kurzsichtig ist in der Politik. Weil man nicht in der Lage ist, soweit voraus strategisch zu denken, weil man auch nicht bereit ist, sich in die Lage des anderen zu versetzen. Das ist der Grund dafür.

Precht: Und warum ist man nicht bereit dazu? Ist einem der Frieden das nicht wert?

Kujat: Wissen Sie, das ist eine Frage, ich könnte sie etwas flapsig beantworten und sagen: Helmut Schmidt hat vor einiger Zeit mal gesagt, als er noch lebte: «Unser grosses Problem ist, dass wir keine weitsichtigen, politischen Führer in Europa haben.»

Precht: Das hängt ja vielleicht nicht nur an den Charakteren, weil er hatte sich selbst mitschmeicheln wollen, sondern das liegt natürlich auch daran, dass die Aufregungs-Mediendemokratie heute anders funktioniert als zu Schmidts Zeiten und so wenn Sie irgendetwas sagen, was so ein bisschen vom Mainstream abweicht, dann werden Sie medial erschossen als Spitzenpolitiker.

Kujat: Aber ich glaube, es ist vielleicht interessant noch mal auf den Punkt einzugehen: Wie ist das Verhältnis eigentlich zustande gekommen und was beinhaltet es? Wir haben diesen Grundlagenvertrag mit Russland geschlossen und Russland hat ihn schliesslich auch unterzeichnet, aber Russland hatte eine andere Strategie. Russland wollte ein Mitbestimmungsrecht in der NATO haben, ohne selbst Mitglied zu sein – also eine Art Vetorecht bei wichtigen Fragen. Das hätte man definieren können.

Precht: Weil die Russen Angst hatten, dass die NATO nach wie vor Interessen verfolgt, die den russischen massiv zuwiderlaufen.

Kujat: Ganz genau.

Precht: Also man hat ja damals gesehen, wie die NATO per Osterweiterung – Sie waren ja selber daran beteiligt – Stück für Stück weiter an die russische Grenze herangerückt ist und der Ukraine-Konflikt hat natürlich viel damit zu tun, dass die Russen Angst hatten, dass von den wenigen Einflussländern, die Ihnen noch geblieben sind, also ein ganz bisschen Georgien und das desolate Weissrussland und das bisschen Ukraine, dass Ihnen das auch noch weggenommen wird.

Kujat: Na ja, vor allen Dingen, die Ukraine hat aufgrund ihrer geostrategischen Lage natürlich ein enormes Gewicht. Das hat übrigens bei den Beitrittsverhandlungen mit Polen schon eine grosse Rolle gespielt.

Precht: Aber ich verstehe überhaupt nicht, warum wir denen damit gewunken haben, die Ukraine in die EU aufzunehmen, was wir ja niemals getan hätten. Also wenn wir die Ukraine in die EU aufgenommen hätten – jetzt auch noch zum gegenwärtigen Zustand, also lassen wir uns überlegen, wie viele Menschen, bettelarme Menschen aus diesem Hungerland wären alle nach Europa gekommen. Und was hätten uns die Ukrainer denn verkaufen wollen? Wir hätten ja eine Baustelle geschaffen, die hundertmal grösser ist als Griechenland. Also das hätten wir nicht gewollt. Sondern was wir eigentlich gewollt haben, ist – mit dem Winken mit der EU – die Aufnahme der Ukraine in die NATO. Das heisst, wir hätten sozusagen den Bogen noch weiter gespannt. Warum musste man das machen? Warum hätte man nicht sagen können: Hier ist eine Grenze erreicht, die wir um des Friedens in Europa willen jetzt einfach nicht überschreiten.

Kujat: Also, ich habe diesen Standpunkt immer vertreten. Ich war ein UNO-Vorsitzender der NATO-Ukraine-Kommission der Generalstabchefs. Ich war unendlich viele Male in der Ukraine. Wir haben von der NATO aus den Abrüstungsprozess in der Ukraine gesteuert, aber dieser Drang in die NATO, der war von Anfang an da. Der war immer und immer wieder. Und es war ein völlig falsches Verständnis auf der ukrainischen Seite. Ich habe öffentlich immer wieder gesagt in der Ukraine, bedenken Sie bitte, dass nicht die Streitkräfte Mitglied der NATO werden, sondern das gesamte Land und die Ukraine ist weit entfernt davon in einem demokratischen Zustand zu sein, um in die NATO aufgenommen zu werden.

Precht: Also hier würden Sie doch den Wertegesichtspunkt vorziehen und sagen: So ein korrupter, wirtschaftlich am Boden liegender Oligarchen-Staat, den können wir nicht als Teil eines westlichen Wertebündnisses sehen.

Kujat: Das auch. Aber ich als Militär, für mich war ein anderer Gesichtspunkt im Vordergrund. Und zwar, es gibt zwei Aspekte unter den allgemeinen Kriterien, die ich für wichtig halte. Der erste ist: Ein Land, das in die NATO aufgenommen werden möchte, muss einen positiven Beitrag zur Sicherheit aller leisten. Wir wollen nicht, dass Konflikte und Krisen in die NATO importiert werden. Das ist bei der Ukraine nicht der Fall. Die Ukraine würde keinen positiven Beitrag zur Sicherheit aller leisten, sondern das Gegenteil wäre der Fall, sie würde einen potentiellen Konflikt mit Russland in die NATO importieren. Zweiter Aspekt: Auch die NATO übernimmt eine Verpflichtung gegenüber dem neuen Mitgliedsland, nämlich dieses Land zu verteidigen im Falle eines Angriffs, im Falle eines militärischen Konflikts. Die NATO kann die Ukraine nicht gegen Russland verteidigen.

Precht: Sie meinen schon rein militärisch?

Kujat: Rein militärisch.

Precht: Wegen dieser unglaublich langen Grenze?

Kujat: Auch wegen der militärischen Fähigkeiten; auch deshalb, weil ein solcher Konflikt, ein konventioneller Konflikt zwischen der NATO und Russland, immer in eine nukleare Auseinandersetzung mündet.

Precht: Droht dem Westen von Russland überhaupt Gefahr? Also, ich habe ja das Gefühl, das alte Denkschema des Kalten Krieges ist von den Siegern – und der Westen war der grosse Sieger des Kalten Krieges – nicht aufgegeben worden. Sondern da hat man gesagt: Wunderbar, all diese ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, die wollen in die NATO, die nehmen wir auch auf, wir verschieben den westlichen Machtbereich. Und es ist uns nicht geglückt, mit Russland in ein Verhältnis – jedenfalls nicht dauerhaft, das sah ja mal ein bisschen besser aus – in ein Verhältnis einer friedlichen Partnerschaft einzutreten. Und es gibt ja auch viele Menschen bei uns in Deutschland, viele Journalisten, auch einige Politiker, die der Überzeugung sind, von Russland drohe immer noch irgendeine Form von Gefahr. Sie kennen Russland sehr gut – also 20, 25 Jahre lang, Sie sassen in den entsprechenden Ausschüssen. Wie gross schätzen Sie diese Gefahr ein? Ist das ein realer Konflikt? Oder ist das ein Papiertiger?

Kujat: Lassen Sie es mich so beantworten. Die Erweiterung der NATO hatte nicht zur Absicht die NATO-Infrastruktur bis an die Grenzen Russlands zu bringen. Das Ziel der NATO-Erweiterung war es, den Staaten, die bisher unter einem undemokratischen System gelebt haben, unfrei waren, die Möglichkeit zu geben, sich zu einer Demokratie zu entwickeln, gutnachbarschaftliche Verhältnisse herzustellen, die innere Struktur, Kontrolle der Streitkräfte, Auflösung der Generalstäbe usw., das alles war Teil unserer Verhandlungen mit den neuen Mitgliedern, das zu ändern. Im Grunde genommen ist die NATO-Erweiterung nur vergleichbar mit dem Wiener-Kongress von 1815. Die politisch-geostrategische Landkarte in Europa wurde durch diese Erweiterung völlig verändert. Aber, da haben Sie Recht, es hatte auch eben zur Konsequenz

Precht:auf Kosten einer Eskalation unseres Verhältnisses zu Russland bzw. Re-Eskalation.

Kujat: Ja, und Russland war in dieser Zeit eben…, ging durch ein tiefes Tal, möchte ich nur sagen, in jeder Hinsicht.

Precht: Ein in Auflösung begriffener Staat!

Kujat: Ja, wirtschaftlich, politisch, da brauchen wir im Einzelnen nicht zu diskutieren. Insofern hat der Westen eine Chance genutzt, das muss man sagen. So jetzt kommt aber die Frage: Ist potentiell die Gefahr eines Krieges gegeben? Es gibt eben Staaten, da nenne ich jetzt einmal die baltischen Staaten, aber auch Polen, die ein besonderes, historisches Verhältnis zu Russland haben. Gerade bei den baltischen Staaten, die ja nicht nur Mitglieder des Warschauer-Paktes waren, sondern es waren Sowjetrepubliken und diese Sowjetrepubliken sind ja eigentlich durch den Ribbentrop-Molotow-Vertrag, in der Abgrenzung der Einflusssphären, in die Hände Stalins gebracht worden. Also wir Deutschen haben hier eine besondere Verantwortung und haben diese Verantwortung auch immer gesehen. Das Gleiche gilt aus moralischen Gründen gegenüber Polen und das hat dazu geführt, dass wir diese NATO-Erweiterung massiv von Deutschland aus weitergetrieben haben. Denn die Amerikaner waren überhaupt nicht für eine NATO-Erweiterung am Anfang. Die Amerikaner wollten im Grunde genommen diesen Staaten so eine Spielwiese geben, vor der Tür.

Precht: Jetzt haben wir das eine erreicht. Wir haben das, was wir mit der NATO diesen Staaten geben wollten, erreicht und haben es aber sehr teuer gekauft, dadurch dass der Kalte Krieg im Grunde genommen wieder auflebt. Jetzt haben Sie am Anfang gesagt: «Wir gehen nicht an die Ursachen der Konflikte heran.»

Kujat: Das ist richtig.

Precht: Also wir sehen im Grunde genommen nie den Genotyp, immer nur den Phänotyp. Wir sehen, was gerade aktuell irgendwo passiert, wer bombardiert welche Stadt, wer rückt wo ein, aber wir fragen uns nie, was sind die eigentlichen Ursachen und Sie haben am Anfang gesagt: «Diese eigentlichen Ursachen liessen sich lösen.»

Kujat: Ja.

Precht: Jetzt bin ich gespannt, wie?

Kujat: Also wenn wir diese Frage auf das Verhältnis NATO-Russland übertragen, dann geht es auf der einen Seite darum, dem durchaus berechtigten Sicherheitsbedürfnis aufgrund der historischen Erfahrungen der baltischen Staaten und Polens gerecht zu werden. Die Frage ist, wie man das macht: Ob man das macht, indem man die Eskalation erhöht, oder ob man versucht, mit der anderen Seite einen Ausgleich zu finden. Ich plädiere für einen Interessenausgleich.

Precht: Wie könnte er konkret aussehen?

Kujat: Es ist relativ einfach zu erklären. Erstens, wir müssen zurückkehren zu dem, was wir einmal als richtig befunden haben. Ich nehme jetzt den NATO-Russland-Grundlagen-Vertrag: die strategische Partnerschaft zwischen der NATO und Russland. Und da steht drinnen, wenn die Sicherheitsinteressen beider Seiten berührt sind, dann werden die NATO und Russland sich in den entsprechenden Gremien, NATO-Russland-Rat, zusammensitzen und in vertrauensvoller, konstruktiver Weise – wie all diese diplomatischen Floskeln so schön heissen …

Precht: So gut Ihr Vorschlag ist, im Augenblick ist es gerade so, dass diese Gremien und Institutionen an Macht und Einfluss verloren haben, gegenüber früherer Zeit. Das heisst, wir machen immer mehr Alleingänge

Kujat: Eben, aber weil wir es so entschieden haben.

Precht: Wir überbieten uns, Westen und Osten, im Brechen des Völkerrechts: Also wir brechen in Jugoslawien das Völkerrecht, die Russen brechen auf der Krim das Völkerrecht, in der Ostukraine das Völkerrecht. Trump bombardiert mal ebenso eine Landebahn, ohne angegriffen worden zu sein, wieder Bruch des Völkerrechts. Also jeder nimmt sich im Augenblick heraus, das Völkerrecht zu brechen und wir waren ja mal vor 20 Jahren dabei, dass so ein Völkerrechtsbruch aber eine ganz, ganz, ganz hohe Rechtfertigung bedürfte. Da musste man schon sagen, in Jugoslawien droht ein Genozid, deswegen dürfen wir das. Heute muss kein Genozid drohen, heute bricht jeder das Völkerrecht quasi wieder nach Belieben. Also ein unglaublicher Rückschritt. Wie kann man diesen Prozess wieder zurückdrehen und auf ein Niveau kommen, wo wir vielleicht vor 10 oder 12 Jahren mal standen?

Kujat: Ob dieser grosse Wurf gelingt, das kann ich Ihnen nicht sagen, aber man muss immer versuchen, mit kleinen Schritten zu diesem grossen Wurf zu kommen. Diese kleinen Schritte bedeuten, dass man erstens die Instrumente, die man in guten Zeiten geschaffen hat, um in schwierigen Zeiten Probleme zu lösen, dass man die nutzt. Das haben wir nicht getan. Wenn die Bundesregierung sagen würde, heute, ich will, dass der NATO-Russland-Rat auf der Ebene der Aussenminister tagt oder ich will, dass Putin zu dem nächsten NATO-Gipfel Ende Mai eingeladen wird, dann würde dies geschehen. Diese Einflussmöglichkeiten haben wir, aber sie sagt es nicht.

Precht: Warum nicht, was ist der Grund?

Kujat: Tja, ich könnte jetzt wieder Helmut Schmidt zitieren, aber das will ich nicht.

Precht: Also Sie glauben, dass einfach zu viel Politik nach Taktik gemacht wird und nicht nach Strategie.

Kujat: Genau.

Precht: Also, dass wir kurzfristig überlegen, was ist besonders opportun gegenüber den USA, was ist opportun gegenüber der Presse, aber nicht überlegen, was sind sozusagen die langfristigen, strategischen Ziele und wie kommen wir dahin.

Kujat: ‹Day-to-day-Management›. Wir machen ‹Day-to-day-Managment›. Was uns fehlt ist eine Gesamtstrategie auf lange Sicht.

Precht: Und wenn sie jetzt da wäre? Mal angenommen, im bestem Fall, wir würden sie entwickeln, und das würden wir am Reissbrett ja vielleicht hinbekommen, dann stellt sich ja noch als Zweites die Frage: Wie gross ist der Einfluss all derjenigen, die von dem unfriedlichen Zustand und von der Fortsetzung des Kalten Krieges profitieren? Also Rüstungsindustrie, Waffenhändler usw.? Würden Sie diesen Faktor nicht als – im Augenblick – übermächtig ansehen gegenüber allen schönen Bemühungen – falls sie denn überhaupt gemacht werden, sich eine Ordnung auszudenken, die für die Grossmächte zumindest akzeptabel wäre?

Kujat: Ich sehe diesen Faktor, aber ich würde nicht sagen, dass er übermächtig ist. Es gibt sicherlich Interessen, also gerade bei der Ukraine ganz offensichtlich, da gibt es private, wirtschaftliche Interessen auf Seiten der Vereinigten Staaten.

Precht: Also in Syrien muss das auch so sein, sonst wäre der IS nicht pausenlos immer mit den besten Waffen ausgestattet. Was da für eine Infrastruktur an Waffenhandel und …

Kujat:Natürlich, über Jahre hat der IS doch Öl verkauft und hat dafür Waffen bekommen. Das steht völlig ausser Frage. Diese Interessen sind da. Aber ich würde doch sagen, dass die politische Macht diese Interessen überwinden könnte, wenn sie es denn wollte. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Und ich bin auch felsenfest davon überzeugt, dass Deutschland eine wesentlich stärkere Rolle spielen könnte, wenn wir über eine kohärente Aussen- und Sicherheitspolitik verfügten – das ist das eine; wenn wir zweitens aber auch bereit wären, mehr Verantwortung zu übernehmen und wenn wir drittens die Mittel hätten, um diese Verantwortung zu übernehmen, um eine solche Lösung zu erreichen.

Precht: Im Augenblick bedeutet ja die Mittel zu haben auch die militärische Mittel zu haben. Wir sind in einer Situation, wo Deutschland sich genötigt fühlt, den Verteidigungsetat aufzustocken. Dabei befinden wir uns in der etwas grotesken Situation: Die USA geben NEUNMAL so viel Geld für Waffen aus – für ihren Rüstungsetat – wie Russland. Die Europäer geben jetzt schon etwas mehr als DREIMAL so viel aus wie Russland. Müssen wir noch mehr Geld in die Hand nehmen, müssen wir noch mehr Geld in Rüstung ausgeben – was wir für andere Sachen dann nicht zur Verfügung haben, um tatsächlich zum Frieden zu kommen?

Kujat: Ja, – nur muss man natürlich sehen, die technologischen Möglichkeiten und die Wirtschaftsleistungen in Russland ist eine andere als in Europa. Es ist sicherlich so, dass Russland mit weniger Rubel mehr ‹Firepower›, sage ich mal, also mehr Feuerkraft produzieren kann als wir mit den entsprechenden Euros. Das kann man nicht direkt vergleichen. Russland hat enorm aufgerüstet, hat inzwischen eine sehr moderne Armee, aber wenn man das geostrategische Kräfteverhältnis betrachtet, sind die Vereinigten Staaten natürlich in jeder Hinsicht dominierend, weil sie eben als einzige Macht nur noch über die weltweite Fähigkeit – zudem was man ‹Powerprojektion› nennt–, also die Fähigkeit des Einsatzes von Streitkräften überall auf der Welt verfügen.

Precht: Der Kern meine Frage war, soll Deutschland mehr aufrüsten?

Kujat: Da komme ich noch dazu. Wir haben immer in der Zeit des Kalten Krieges sehr viel Geld investiert für die Bundeswehr. Die Bundeswehr war sehr stark – also in der NATO sehr stark – und hat uns auch Einfluss gegeben in der NATO. Wir haben immer gesagt: «Die Stärke der Bundeswehr und unser politischer Einfluss in der NATO sind zwei Seiten einer Medaille.» Das war ein ganz wichtiger Aspekt für uns, weil es letzten Endes auch darum ging, ob ein Krieg auf deutschem Boden stattfindet oder nicht. Nach dem Fall der Mauer, nach dem Zusammenbruch des Warschauer-Paktes haben alle die Friedensdividende kassiert, haben alle abgerüstet und immer weniger Geld ausgegeben. Wir haben es dabei übertrieben – das muss man ganz klar sagen. Wir haben die Bundeswehr in einer Weise zurückgefahren, dass sie nicht mehr in der Lage ist, ihre Aufgaben zu erfüllen. Man muss es vielleicht einmal illustrieren, um zu sehen, wie der Zusammenhang ist. Es ist ein Dreieck, um das es geht: An der Spitze sind die politischen Aufgaben, die der Bundeswehr gestellt sind. Daraus abgeleitet werden die militärischen Fähigkeiten, die notwendig sind, um diese Politik zu realisieren. Und die letzte Ecke des Dreiecks sind die finanziellen Mittel, die erforderlich sind, um diese militärischen Fähigkeiten zu erreichen. Was wir machen ist, wir belassen es immer bei den politischen Aufgaben, wir geben aber nicht das Geld aus, das notwendig ist, um die dafür notwendigen militärischen Fähigkeiten zu erreichen. Das ist dumm – weil eine Armee, die nicht in der Lage ist, das zu tun, was ihre Aufgabe ist, eigentlich überflüssig ist.

Precht: Würden Sie sagen, dass neben den Aufgaben von denen Sie gesprochen haben, dass es auch zur Aufgabe der Bundeswehr gehört, und sicher auch zur Aufgabe der NATO, tatsächlich eine Art von ‹Friedensplan› zu entwickeln, wie man dauerhaft – und vor allen Dingen jetzt erstmal im Verhältnis des Westens gegenüber Russland und dann noch im Hinblick auf Stellvertreterkriege, die wir im Nahen- und Mittleren-Osten führen – zu einer ‹Weltfriedensordnung› kommen könnte, die tatsächlich besser funktioniert als das, was jetzt ist? Also glauben Sie, dass es möglich ist? Und zweite Frage: Glauben Sie, dass es realistisch ist und irgendwann in absehbarer Zukunft kommt?

Kujat: Es ist möglich, es ist sogar sehr kurzfristig möglich, wenn die NATO beispielsweise zu dem nächsten Gipfel Putin einladen würde. Der NATO-Rat tagt auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. Dann könnte man dort die Weichen stellen für eine solche Lösung und man könnte dann nachgeordnete Gremien, zum Beispiel den Militärausschuss oder den NATO-Russland-Rat in der Form der Militärs damit beauftragen, das weiter auszuarbeiten. Man muss nur ganzheitlich denken! Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb sage ich eine Gesamtstrategie. In einer Gesamtstrategie kommen alle Elemente zusammen: die Diplomatie, der Rüstungsexport, aber auch die Entwicklungshilfe, vor allen Dingen vorausschauende Sicherheitsvorsorge, und das Entscheidende ist, dass diese Elemente eine Synergie erzeugen, im Sinne der politischen Interessen und der politischen Zielsetzung, die wir haben. Das ist nicht der Fall bei uns. Es wird alles sozusagen in Kästchen gedacht.

Precht: Also, wir müssen aus den Kästchen heraus. Wir müssen die welthistorische Aufgabe, vor der wir stehen: Frieden zu schaffen, bevor die Dinge weiter eskalieren, als unsere Aufgabe ansehen. Wir müssen aus dem Prinzip des ‹Fortwurstelns› heraus oder etwas pathetischer ausgedrückt: Martin Niemöller hat mal gesagt: «Es haben die Völker zu allen Zeiten jede Schlacht um den Frieden verloren, doch wir sind in diese Welt geboren, um endlich zu siegen. Uns bleibt keine Wahl.»

Ich danke Ihnen Herrn Kujat.

Kujat: Gerne.