Der schwarze Stein

 

Oh quanti sono incantatrici; oh quanti

incantator tra noi, che non si sanno.

Orl. Fur. cant. VIII. 1.

 

DER SCHWARZE STEIN

Dort, inmitten der Lichtung liegt er, in einer kleinen Mulde.
Etwas abseits, zehn Schritte näher zum Bach, ragt sein kleinerer
Bruder mit einer stumpfen Spitze aus dem Boden. Am Bachufer
duftet im Sommer die Uferminze. Zwei, drei Schritte vom kleineren
Stein entfernt - ein ausgetretener Platz, wo man sich zum Wasser bücken kann; ein fröhlich murmelndes Wasser, seicht und gerade
breit genug, um ein Hinüberspringen zu verhindern. Zum Norden hin
mündet der Lauf in einen kleinen Stausee; rechts - der Bach,
links - ein stiller, breiterer Wasserarm, dessen Grund nun im Herbst mit einer dichten Lage Laub bedeckt ist. Auf seiner Oberfläche spiegeln sich beidseits hohe Tannen und Buchen, dichtes Rankenwerk der Kräuter und der Himmel. Inzwischen ist es Winter, und ich war noch nicht wieder dort, außer im Traum.
 

Mir träumte, die ganze Wiese sei zugeschüttet worden, so dass ich den großen schwarzen Stein nicht mehr wiederfinden konnte. Ich war der Stein, und man hatte über mir Erde aufgeschüttet, mir bis über die Nase. In Wirklichkeit wird er nicht einmal im tiefsten Winter vom Schnee zugeschneit, wovon ich mich ja schon öfter überzeugen konnte. Das Gras ruht jetzt unter der Schneedecke, das Wasser unter dem Eis. Die dünne Eisdecke trägt nicht; vor einigen Wintern bin ich da eingebrochen, stand bis zum Hals im Wasser.

Eigentlich ist es gar kein Stein, sondern ein liegengebliebener
Felsbrocken, eingebrochen an einer dünnen Stelle der Zeitdecke,
nun auch bis zum Hals im Wasser. Sein Kuhrücken ist dunkel und
grau, ich stehe darauf und wundere mich über diese gerade Furche,
die ihn der Länge nach durchzieht.

Ich sehe zum Osten, zum Bach; dann nach links, mehr zum Norden hin, zur Halbinsel. Mit stämmigen Bäumen und in Ufernähe mit Büschen bepflanzt, birgt sie in lauen Juninächten die unregelmäßig hier und da aufleuchtenden Glühwürmchen. Hier und da lassen sich manche sogar den Bach hinuntertreiben, scheint es. Die mächtigen Wurzeln der Buchen bieten natürliche Ruheplätze.

Stunden verbringe ich hier, dem Lauf der Gedanken folgend.


Auch hier sind Menschen auf ihrer Bahn; ich fühle es, wenn sie vorübergehen. Laut, aufdringliche Augen. Ihre Schweißspuren kann
ich bis in bestimmte Stadtbezirke zurückverfolgen, von hier ausgehend, dem Zentrum, dem schwarzen Stein. Sein Kuhrücken ist dunkel und grau,
ich stehe darauf und wundere mich über diese gerade Furche, die
ihn der Länge nach durchzieht.

Das Geräusch von Rotorblättern im Himmel lässt mich aufsehen, an
dunkle Erinnerungen rührend, denn ich zucke zusammen wie gejagtes
Wild. Ich kühle mein Gesicht im kalten Wasser des Bachs, den Nacken, lasse sie langsam an der Luft trocknen. Die Dämmerung dämpft meine Erregung. Und ich verwachse mit den Schatten hier.
 

Dann rufe ich den Wind. Ich steige auf den Stein und pfeife.

Der Himmel ist dunkelblau und wolkenlos. Nur ein leiser Hauch bewegt die Baumkronen um den Stein herum. Dieser Kreis hat eine Lücke zum Westen hin, man sieht den Horizont, am Horizont - klein die Häuser der Stadt. Mehr zur Mitte des Gesichtsfelds stehende Bäume bilden ein bizarres Filigran von Ästen, hinter denen die Sonne gerade untergegangen ist.

Es ist kühl, und ich drehe mich langsam im Kreis, und pfeife nach
dem Wind in einem langgezogenen fallenden Ton zu den Baumkronen
um mich herum.

Der Wind antwortet, umkreist mich, entlockt dem Tannengeäst ein
sich steigerndes Rauschen. Ich drehe mich weiter im Kreis, mal schneller, mal langsamer; pfeife, und er folgt mir - oder folge ich ihm? So spielen wir miteinander.

Von fern her, aus dem Westen, in merkwürdig zuckenden ungleich-
förmigen Bewegungen, sind plötzlich Schatten über mir, die kaum hörbare Schreie ausstoßen, um genauso plötzlich wieder im Westen zu verschwinden.


Das Gras bildet plötzlich ein seltsames Gespinst, ein von unsichtbarer Hand geworfenes zitterndes Netz. Ich stehe nun am kleineren Stein, am Rande der Welt.

Ich weiß - Er ist es, und sie kehren zu ihm zurück.
Der Bogen zwischen uns ist gespannt.

Aus der Himmelsrichtung, in welche die Schatten verschwinden,
dehnen sich nun Wolken zu mir herüber, bis sie in kürzester
Zeit die ganze Entfernung und pfeilartig den ganzen Himmel
bis zu mir hin ausfüllen.

Ich drehe mich immer schneller und der Wind gewinnt immer mehr
an Gewalt. Feuchtigkeit liegt nun in der Luft. Der Rausch der
kreiselnden Bewegung hält mich und den Wind im Bann. Der Wind
zerrt an mir. Ich fühle mich leicht und kräftig. Einen Moment
lang der Herausforderung gewachsen.

Es dunkelt. Ich spüre die ersten feuchten Tropfen im Gesicht.
Und bin allein mit dem Wind, dem Regen und der Nacht.
Am Rande der Welt.

Blitze.
feuerwerk

 

die blitze hinterließen gedankenreihen
beunruhigende schatten auf wissenden augen
die blitze und das gewitter längst sehnsüchtig erwartet
dann planvoll heraufbeschworen
von der sinnlosigkeit
menschlicher rauchwolken
die tief in die vergessene kindheit reichten
wo grossfeuer schon wieder scharen
außer atem geratener menschen anzogen
scharen von laufenden kinderwesen
die allein für die rauchschwaden am horizonte
ein geheimnisvolles ungeheuer verantwortlich machten
das auch in ihren träumen
hitze und fieber der angst verursachte

IHN

die blitze waren einsame augen über den felsen
unentwirrbarer schluchten
wo zeitlosigkeit und tod
vergeblich einander suchten

die blitze waren aber auch sanft
wie das gras und die blumen der kindheit
wie das wasser zwischen den brücken und -
ich hatte angst -
wie die nachwehen der sucht

sanft und schweißtreibend
wie die angst ums überleben
wenn es noch nicht amtlich ist
was nun wird
und letzten endes
doch alles
glücklicherweise beim alten bleibt


diese blitze
fielen wie lächeln
von den lippen meiner geliebten frau
sie tauchten das verborgene in verständnisvolle falten und
hinterließen ausgerauchte backformen auf dem tisch
meiner gedanken
meine hände kneteten einen teig
dafür bestimmt
das licht vor dem austrocknen zu bewahren

ich ging natürlich nicht hin
diese toten formen aus den ruinen zu lösen

denn die scheu vor dem vergangenen
war die scheu
vor dem eigenen grab

so kämpfte ich weiter im dickicht der jagd
und ab und zu erklang noch das horn von gefährten
die bedeutungsvoll - du! - zu mir sagten
beruhigendes hinzusetzend
das aus einer herrischen gebärde bestand

so liefen lokomotiven
unter der brücke ein und aus
und der rauch ihrer schornsteine verdunkelte zeitweise
meine sicht

die räder waren eingefahren
nun fertig zum abflug

 

 

fulgorator

 

schicht um schicht

Von Jurij Walkiw